Bad Kissingen, 8. Februar 2024

Rede von Oberbürgermeister Dr. Dirk Vogel anlässlich des Neujahrsempfanges 2024

Hier finden Sie den vollständigen Text der Rede, die Oberbürgermeister Dr. Dirk Vogel anlässlich des Neujahrsempfanges 2024 im Kurgarten Café im Arkadenbau gehalten hat.


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Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde der Stadt Bad Kissingen,

herzlich Willkommen, auch im Jahr 2024, sofern wir das noch nicht persönlich geschafft haben, was in der Regel der Fall war. Das Jahr hat schnell und turbulent begonnen, auch in unserer schönen Stadt an der Saale. Über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg hat auch in Bad Kissingen ein breites Bündnis formuliert, was viele Menschen auch in Deutschland auf die Straße gebracht hat: Die Sorge um ein funktionierendes Miteinander, um das friedliche Zusammenleben und am Ende um nichts weniger als um den Fortbestand unserer Demokratie, nicht nur in unserem Land, sondern eben auch in unserer Stadt.

"Nie wieder" ist jetzt bei uns Motto und Treiber. In einer Stadt, in der vor 100 Jahren 1/3 Drittel der Kurgäste jüdischen Glaubens waren. In einer Stadt, der Anfang des 20. Jahrhunderts erst als weltoffener Kurort europaweite Anerkennung und Wohlstand zuteil wurde. Die es dann aber - nur wenige Jahre später nach dieser Blütezeit - schaffte, Juden den Zugang zum Luitpoldpark zu verweigern, ihre jüdische Synagoge niederzubrennen, ein Hakenkreuz am Turniergebäude anzubringen und Bürger wie Frank Lazarus, Siegfried Kissinger, Sally Mayer, Karl Neumann und Gustav Neustädter zu deportieren, damit sie später in Theresienstadt, Treblinka und Auschwitz ermordet wurden.

Wer heute fantasiert und fordert, dass wir alle Menschen aus dem Land befördern, nur weil sie die falsche Hautfarbe oder Herkunft haben, macht nicht nur menschlich, sondern auch wirtschaftlich einen Fehler. Gerade die jüngere Geschichte unserer Stadt zeigt doch, dass wir zu wenige Kissingerinnen und Kissinger auf die Welt gebracht haben. Das Statistische Bundesamt sagt ganz klar wo die Reise hingeht:

"Die Hauptursache für das Sinken der Erwerbspersonenzahl ist das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1970 aus dem erwerbsfähigen Alter in den kommenden 25 Jahren. Die Zahl der Erwerbspersonen wird im Osten bis 2060 voraussichtlich um 12 bis 28% sinken, wohingegen der Rückgang im Westen zwischen 3 und 22% betragen dürfte."

Die Zuwanderung ist die einzige Chance uns näher in Richtung „best case“ zu entwickeln. Wir haben in Zukunft zu wenige junge Menschen, um unsere Wirtschaft in Zukunft am Laufen zu halten. Gegen einen Mitarbeiter beim Bäcker Schmitt, der uns die Brötchen verkauft oder den hier gelernten und bei uns tätigen Altenpfleger aus Afghanistan, der in seiner Freizeit Jugendliche trainiert, kann keiner ernsthaft etwas haben. Übrigens ist auch ein Großelternteil des amtierenden Oberbürgermeisters einmal in Folge eines Weltkrieges in Bad Kissingen gelandet. Wir sollten Menschen nicht nach dem, wo sie herkommen, welche Sprache sie sprechen oder welche Hautfarbe sie haben, sondern nach dem, was sie machen und tun beurteilen. Wer hier ist, sich an die Regeln hält, sich anstrengt und auf eigenen Beinen steht, hat sich aus ethischen, moralischen und vor allem auch aus eigennützigen wirtschaftlichen Gründen eine Chance in Deutschland, Bayern und Bad Kissingen verdient.

Mit meinem Plädoyer für eine Zuwanderung formuliere ich aber auch gleichzeitig eine, meine, klare Erwartung an die Menschen, die zu uns gekommen sind. Es sind allein 1.200 ohne deutschen Pass in den letzten drei Jahren. Einige bemühen sich nach Kräften hier Fuß zu fassen und haben es schon geschafft. Viele haben aber den vollen Arbeitsmarktzugang und nachweislich bisher keine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Einfach nur da sein, reicht nicht aus. Die Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials heißt nicht automatisch Erhöhung der Erwerbstätigen. Es ist also nicht falsch, wenn im Herbst des vergangenen Jahres 78% im DeutschlandTREND angaben, dass die Integration von Flüchtlingen in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt eher schlecht oder sehr schlecht gelingt. Deswegen habe ich vor kurzem mit allen beteiligten staatlichen Institutionen gesprochen, damit wir gemeinsam aktiver werden bei dem Thema. Wir haben alle, damit meine ich auch uns, die Stadt Bad Kissingen, zu wenig getan. Nur wenn alle in einer Stadt etwas beitragen, halten wir den Laden hier am Laufen und zusammen, vermeiden Neid-Debatten, ermöglichen wirtschaftliche Prosperität und sichern gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Stadt.

Gerade letzterer gelingt übrigens nicht, indem öffentliche Probleme ideologisiert bewertet werden. Die gerade in den Großstädten und den Universitäten populär gewordene „neue linke Ideologie“, wie es der Spiegel Redakteur René Pfister in seinem Beststeller beschrieben hat, hilft uns nicht dabei, die Aufgaben gesamtgesellschaftlich zu bewältigen. Für diejenigen, die nicht wissen was ich meine: Es geht um Annahmen, dass es beispielsweise einen automatischen strukturellen Rassismus weißer Menschen gebe. Ich rate dringend davon ab, auch als jemand, der ein halbes Jahr in den USA gelebt hat, nicht alles aus den USA zu importieren, nicht vorschnell Urteile zu fällen. Nicht jeder, der nach der Herkunft fragt, ist ein Rassist. Nicht jeder, der in Bad Kissingen Sorgen hat über die Entwicklung der Zuwanderung, ist gleich ein Nazi oder Rechtsextremist. Wir sollten diese Begriffe sparsam verwenden. Der bekannte ehemalige FU-Professor Richard Stöss unterscheidet sorgsam und deutlich in seinem Extremismusmodell Rechtsextremismus, Rechtsradikalismus und „Rechts“. Letzteres ist übrigens eine normale politische Kategorie innerhalb der „demokratischen Mitte“, genauso wie „Links“. Ich will weder ein Land noch eine Stadt der Hypes und Hysterie und bin deswegen froh, dass bei uns in Bad Kissingen diese Debatten eine geringe Rolle spielten; und so soll es auch bleiben.

Die Welt ist nicht schwarz und weiß, sie ist verdammt grau. Ich setze auf ein Konzept der breitestmöglichen Toleranz und des Vertrauens auf Basis demokratischer Werte dagegen. Nur durch Akzeptanz, Dialog und Diskussion lassen sich die meist verdeckten Widersprüchlichkeiten und manchmal offenen Konflikte des menschlichen Zusammenlebens in konstruktive Bahnen lenken. Was wäre denn gewesen, wenn das Ehepaar Eggen aus ideologischen Gründen von allen Mitgliedern des Stadtrates von Beginn an politisch bekämpft worden wäre? War der Kissinger Weg nicht der erfolgreichere? Wir müssen ja nicht alle mit Wein oder Bier anstoßen, aber ins Gespräch kommen und bleiben - und da meine ich ausdrücklich vor allem auch alle eingewanderten Menschen und Gruppen - sich wechselseitig im Alltag, in Schule, Verein oder am Arbeitsplatz zu interessieren, füreinander und miteinander, das muss möglich sein. Mit allzu vielen aufgestellten Regeln, Definitionen und Vorurteilen werden genau diese notwendigen Interaktionen von Menschen und Gruppen von vornherein abgewürgt. Wir werden in Bad Kissingen neue Formate finden, wo genau das stattfinden kann.

Kurzfristig müssen wir uns trotzdem keine Sorge machen, dass die Demokratie abgeschafft wird. Die große Mehrheit steht zur Demokratie. Der Ansprechpartner von Rechtsextremismus ist die abwehrbereite Demokratie mit dem Rechtsstaat und den Strafverfolgungsbehörden. Ihnen wurde im Staatsgefüge die Aufgabe der Kontrolle, Sanktion, ja auch von Verbotsverfahren zugeteilt. Das sind im Kern rechtliche Fragen, die von den zuständigen Behörden engagiert beantwortet werden müssen.

Etwas Anderes macht mir viel größere Sorgen. Egal wie die rechtliche Frage ausgeht, die viel größere politische Frage dahinter wird sie uns nicht beantworten: Die weitverbreitete Dauerkritik am Staat in all seinen Facetten. Egal welche Partei an der Macht ist, sie wird dafür kritisiert, dass sie es nicht könne; von Medien und den jeweils anderen Parteien. Bei einem Regierungswechsel werden nur die Personen auf den Stühlen getauscht, die Argumente bleiben sitzen. Auch der Fasching allerorts kennt seit Jahrzehnten nur ein Thema: Das angebliche Dauerversagen „der Politik“ und der Politiker. Auch bei uns in Bad Kissingen gibt es eine Variante dieser chronischen Staatskritik: Entweder macht die Stadt nichts. Wenn sie etwas macht, macht sie es nicht richtig. Wenn sie etwas macht und es richtig macht, dann macht sie aber woanders nichts. Und das ganze Spiel beginnt von vorn: Es muss immer jemand schuld sein.

Der Oxford-Professor Christopher Hood hat dieses für westliche Demokratien typische und wiederkehrende Phänomen als „The Blame Game“ bezeichnet. Es wird angefeuert von den neuen Möglichkeiten der hier weitgehend unregulierten Sozialen Medien, die von den Autokraten dieser Welt verboten, aber kalt lächelnd gegen uns genutzt werden. Unsere etablierten seriösen Medien haben immer weniger Leser, Hörer und Zuschauer und müssen deswegen aus ökonomischen Gründen die berühmte Sau durchs Dorf oder bei uns durch die Fußgängerzone treiben. Hinzu gesellen sich handfeste Probleme. Während niemand in unserem Land oder unserer Stadt verhungern muss, obwohl das immer wieder latent suggeriert wird, so müssen wir aber doch selbstkritisch sagen, dass wir es auf der anderen Seite tatsächlich häufig nicht immer schaffen selbstverständliche Basics der Vergangenheit wie Zugang zu Arzneimitteln oder Ärzten zu gewährleisten. Ich erinnere mich selbst über das letzte Jahr, als wir bei der Streptokokken-Infektion unserer Kinder zunächst vergeblich versucht haben das entsprechende Antibiotikum in allen Apotheken der Region zu bekommen. Tatsächlich haben sich viele Räder in Wirtschaft und Gesellschaft weitergedreht und verursachen mittlerweile riesige Probleme, während neue, wie die Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Migration, hinzugekommen sind. In dieser Lage der individuellen Unsicherheit und gesamtstaatlichen Überforderung entsteht der Nährboden, auf dem erst die rechtsextremistischen Kulturen exponentiell wachsen können.

Wir müssen als westliche Demokratie und demokratische Mitte, um es mit den Worten von Max Weber aus dem berühmten Aufsatz von 1919 „Politik als Beruf “ zu zitieren, mit „Augenmaß und Leidenschaft“ schnell den Spagat zwischen notwendiger Diskussion in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels schaffen, ohne den giftigen Staats- und Stadtverdruss weiter am Leben zu erhalten.

Augenmaß, indem wir anerkennen, dass niemand unendlich Geld hat, dass nichts von heute auf morgen geht, dass wir neue Balancen aushandeln müssen, dass wir uns eher mehr, als weniger anstrengen müssen, dass wir Kompromisse brauchen, dass Politik Ergebnisse erzielen und Verantwortung für Probleme übernehmen muss.

Aber eben auch Leidenschaft für Richtungen, Inhalte und Programme, damit eine vielfältige Gesellschaft ihre neuen emotionalen Vertreter findet und diejenigen bindet, die für sie stehen, sich einbringen und verhandeln.

Am Ende liegt es auch an uns. Wir brauchen Sie im demokratischen Prozess, egal ob als Mensch, der seine Meinung mutig äußert, der wählen geht, der sich gesellschaftlich engagiert, der Mitglied in einer demokratischen Partei wird, der sich in einen Stadtrat wählen lässt oder sogar hauptamtlicher Politiker wird: Die Vernünftigen, Engagierten, Ehrlichen, Kompetenten, Moderaten und Kompromissfähigen müssen sich auf allen Ebenen der Demokratie, in Parteien der demokratischen Mitte und in allen Stufen des demokratischen Prozesses beteiligen und einbringen. Verstehen Sie das ruhig als Aufforderung, sich bei der nächsten Kommunalwahl für den Stadtrat zu engagieren und anzutreten. Eines vorweg: Es wird schwer sein, diesen Stadtrat zu toppen, der bei aller, auch heftiger Diskussion, zu jeder Zeit und von jedem Mitglied, altruistisch am Wohlergeben der Stadt orientiert war. Herrn Eggens Beitrag zum Schluss der letzten Stadtratssitzung kann ich nur unterstreichen. Meine sehr verehrten Mitglieder des Stadtrats, dafür will ich Ihnen danken.

Es ist unsere Pflicht als Demokraten nicht nur gegen Rechtsextremismus zu sein. Wir müssen auch daran arbeiten einen neuen Optimismus zu gewinnen. Das ist die dringend notwendige, überlebenswichtige und einzig wirksame Impfung unserer Demokratie auf Dauer gegen die grassierende Krankheit des wachsenden Rechtsextremismus der heutigen Zeit.

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